„Power politics are back“ – Keynote von Dr. Giovanni Grevi zur Tagung "India and the EU"
Wie und warum die Europäische Union strategisch autonom werden soll und was das mit den EU-Indien-Beziehungen zu tun hat
Wer am Abend des 20. Novembers 2019 den Toscanasaal der Würzburger Residenz aufsuchte, traf auf ein großes, recht gemischtes Publikum: Studierende des Instituts für Politikwissenschaft und Soziologie der Universität Würzburg, Lehrende, interessierte GasthörerInnen – und rund 25 internationale WissenschaftlerInnen aus Indien, Italien, Belgien, Polen, Schweden, Großbritannien und Deutschland. Bei Letzteren handelte es sich um die TeilnehmerInnen des Workshops „In the Light of the EU’s Global Strategy: India and the European Union – Joining Forces on the Global Scene?“, der vom 20. bis zum 22. November im Rahmen des Deutsch-Indischen Partnerschaftsprogramms des DAAD auf der Frankenwarte stattfand. Ausgerichtet wurde dieser Workshop vom Jean-Monnet-Lehrstuhl von Prof. Dr. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, Professorin für Europaforschung und Internationale Beziehungen an der Universität Würzburg.
Grund für einen Besuch in der Residenz könnte allein der wunderschöne Toscanasaal sein. Der 1744 fertiggestellte, mit aufwendigen, beeindruckenden Fresken verzierte Saal gilt als Meisterwerk seiner Epoche. Kein anderer Ort in Würzburg als die Residenz, seit 1981 UNESCO Weltkulturerbe, mit ihrem Zusammenspiel aus französischer, österreichischer und norditalienischer – also europäischer – Architektur und Kunst könnte als Schauplatz für den Anlass des Abends besser geeignet sein: Die Keynote-Rede „Europe in the World – Strategic Autonomy and Partnership”, die Dr. Giovanni Grevi vom European Policy Centre Brüssel hielt. Das EPC ist einer der renommiertesten Brüsseler Think Tanks.
Nach der Begrüßung durch Prof. Dr. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet ging dem Vortrag ein Grußwort des Vizepräsidenten für Internationalisierung der Universität Würzburg, Prof. Dr. Barış Kabak, voran, der die langjährige Zusammenarbeit der JMU mit indischen Partneruniversitäten lobte. Der bereits angesprochene Workshop ist ein konkretes Ergebnis dieser Kooperation.
In einem knapp einstündigen, sehr informativen, ansprechenden und anschaulichen Vortrag stellte Dr. Giovanni Grevi das Konzept der strategischen Autonomie vor und erklärte, warum es für Europa so wichtig ist, diese anzustreben.
„Renewed sense of purpose“ – Ein erneuerter Daseinszweck für die EU
Laut Grevi befindet sich die Welt in einer Krise. Belege hierfür sind der aufkommende Nationalismus in Europa, die verstärkten Tendenzen zu unilateralem Verhalten in der internationalen Politik und Belastungen in den transatlantischen Beziehungen. Brexit und Trumpismus sind zu den bekanntesten Schlagworten und Symptomen dieser Krise geworden. Was folgt daraus? Laut Grevi ist eine realistic view erforderlich, – nicht aber eine realist view. Realistic – realistisch, im Sinne einer wirklichkeitsnahen Einschätzung der Tatsachen, nicht jedoch im Sinne der internationalen Theorieschule des Realismus, die internationale Politik als Nullsummenspiel versteht, wo der eine gewinnt, was der andere verliert. Grevi mahnt einen fokussierten Blick auf die Zukunft an, auf das, was zu tun ist, und auf die Chancen, die sich bieten. Die EU müsse ihren sense of purpose, ihren Daseinszweck, wiederentdecken und erneuern. Denn die Krise bietet für die EU tatsächlich auch eine Chance: Sie kann eine Alternative anbieten zum Nullsummenspiel und internationale Politik gestalten.
Strategische Autonomie
Die EU müsse lernen, die Sprache der Macht zu sprechen, und sich endlich all ihrer Handlungsmöglichkeiten bewusst werden. Grevi schlägt vor, die EU zur shaping power zu entwickeln, zu einer gestaltenden Macht. Dazu bedarf sie strategischer Autonomie.
Strategische Autonomie ist in Grevis Verständnis die Fähigkeit, selbstständig Entscheidungen zu treffen, ohne dabei auf Entscheidungen anderer Akteure angewiesen oder von ihnen abhängig zu sein. Sie stärkt die Eigenständigkeit. Strategische Autonomie heißt nicht, dass man andere Akteure ignoriert. Autonomie ist nicht Autarkie, vielmehr muss eine strategisch autonome EU Partner suchen und einbinden. Durch die Entfaltung strategischer Autonomie soll die EU Souveränität entwickeln; hier zitiert Grevi den langjährigen EZB-Chef Mario Draghi: „Sovereignty means to control outcomes“ („Souveränität bedeutet, Ergebnisse steuern zu können.“).
Strategische Autonomie bedeutet also schlichtweg eine verstärkte Selbstständigkeit. Und diese fehlt aktuell der EU, die international zwar ein wichtiger Akteur ist, zwischen den „Großen“ – USA, China und Russland – häufig aber untergeht. Gerade im Hinblick auf die transatlantischen Beziehungen ist sich Grevi sicher: „Wenn wir die wertvolle transatlantische Partnerschaft erhalten wollen, muss die EU eigenständiger werden.“
Brace – Empower – Engage
Wie kann strategische Autonomie erreicht werden? Schritt für Schritt, aber entschlossen, meint Grevi. Brace, sich den Aufgaben stellen und Herausforderungen annehmen. Empower, die EU befähigen, mutige Entscheidungen zu treffen. Engage, tätig werden, sich engagieren.
Um strategische Autonomie zu erreichen, muss die EU also noch viel an sich arbeiten. Darunter fällt auch das Schlagwort der consistency, also der Widerspruchsfreiheit und Kohärenz der EU-Außenpolitik. Die Geschlossenheit der EU in ihrem Auftreten nach außen lässt noch zu wünschen übrig. Darunter leidet auch die Glaubwürdigkeit der EU, davon zeigt sich Grevi überzeugt. Dennoch hat die Europäische Union großes Potential, das gerade in der jetzigen Krise ausgeschöpft werden kann und sollte.
EU und Indien – eine wunderbare Chance
Im Vortrag wurden die EU-Indien-Beziehungen nur kurz angesprochen. In der nachfolgenden Diskussion jedoch betont Grevi die Wichtigkeit dieser Verbindung. „Es ist die Verbindung der zwei größten Demokratien der Welt.“
Er sieht Europa und Indien als zwei Enden eines Kontinuums, die zeigen, dass Demokratien zwar kompliziert sind, gemeinsam aber viel erreichen können. Gerade deswegen sei die ExpertInnentagung eine wunderbare Chance, um die Diskussion über die EU und ihre Partner anzukurbeln – und eine rein eurozentrische Sichtweise hinter sich zu lassen.