Deutsch Intern
Institute of Political Science and Sociology

Program in Winter Semester 2024-25

Im Wintersemester 2024/25 stehen die Veranstaltungen des Forum Nachhaltigkeit unter der Überschrift „Nachhaltigkeit und Ethik im Spannungsfeld von Normativität und Normalität“. Neben einer Forschungswerkstatt wird es drei Vorträge geben.

Ethik hat sich in Europa seit der frühen Neuzeit zunehmend auf Fragen des menschlichen Zusammenlebens verengt. Insofern Konzepte der Nachhaltigkeit auf ökonomische und soziale Themen fokussieren, und man nicht streng zwischen Ethik und Moral trennt wie Jürgen Habermas, zeigen sich z.B. Gerechtigkeitstheorien in der Lage, auf entsprechende Herausforderungen zu reagieren, wie die Entwicklungen bezüglich der Intergenerationen-Gerechtigkeit oder der Internationalen Gerechtigkeit zeigen. Aber schon, wenn „sozial“ nicht allein auf Fragen der Verteilungs-Gerechtigkeit oder der Anerkennung bezogen wird, und zudem unser Verhältnis zur Nicht-Menschlichen Umwelt in den Blick genommen wird, werden Grenzen des vorherrschenden Paradigmas deutlich. Wie Ludwig Siep feststellt, stehen technisierte Gesellschaften an einer Schwelle zum Umbau der natürlichen Welt, einschließlich der menschlichen Natur (Reproduktionsmedizin, Cyborgs, KI), die irreversiblen Folgen hat. Wir sollten darüber diskutieren können, mit welchem Körper (und Geist) in welcher Natur Menschen leben werden, was von dem Überkommenen, „Ererbten“ gut und erhaltenswert ist, was „wir“ gestalten und verändern können.

Welche Möglichkeiten gäbe es, die Begrenzungen zu überwinden in einer holistischeren Ethik? Inwiefern sollte von der „guten Welt“ die Rede sein, und nicht nur von Personen und ihren Rechten?

Zu den klassischen Themen der Umweltethik gehören das wechselseitige Verhältnis von Freiheit und Verantwortung, die Rolle der Technik, die Frage, ob der belebten und unbelebten Natur (biologische Arten, Ökosysteme, geologische Formationen, Flüsse) ein inhärenter Wert abgesehen von ihrer Nutzung durch den Menschen zukommt. Durch die Problematik des Klimawandels und die Ressourcenknappheit ist ein neuer Schwerpunkt hinzugekommen: das Konzept der Nachhaltigkeit. Ethische Überlegungen bleiben nun nicht auf die Gegenwart und unmittelbare Zukunft bezogen, sondern müssen ihren Fokus auf die nicht absehbare Zukunft erweitern. Die in diesem Zusammenhang relevanten Fragen, die die Umweltethik stellt, betreffen auch politische Prozesse. Somit ergeben sich Überschneidungen mit anderen Bereichsethiken u.a. bei Fragen von (intergenerationeller) Gerechtigkeit.

Ohne eine gemeinsame Verständigung auf nachhaltige Entwicklung als Ziel und Gegenstand von ethischen Debatten ist es nicht möglich, die Fragen um generationenübergreifende Gerechtigkeit, die kontextabhängig sehr unterschiedlich sein können, zu beantworten. So häufen sich Überlegungen um eine Erweiterung der Menschenrechte um die Bedürfnisse und Rechte von Menschen, die noch nicht geboren sind. Gleichzeitig ergeben sich neue Folgen für die Grundfragen ethischen Nachdenkens, etwa die Frage nach dem guten Leben. Im Zusammenhang mit der Unmöglichkeit, Gerechtigkeit unter existenziellen Herausforderungen wie der Klimakatastrophe als gerechte Verteilung von Ressourcen zu verstehen, ist ein neuer Gerechtigkeitsbegriff notwendig. Der von Martha Nussbaum und Amartya Sen entwickelte Capability Approach mit seiner tugendethischen Grundlegung stellt einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Neudefinition des guten Lebens dar, der auch für Fragen der Nachhaltigkeit interessant ist. Indem versucht wird, Schwellenwerte für bestimmte Befähigungen festzulegen, die ein Leben zu einem potenziell guten Leben machen, rücken wirtschaftliche oder kulturspezifische Aspekte in den Hintergrund. Ziel einer an Nachhaltigkeit orientierten Umweltethik müsste es sein, solche Konzepte auf ihre Bewährung vor dem Hintergrund der aktuell und zukünftig spürbaren Folgen menschlicher Umweltzerstörung zu prüfen.

Methodologisch würde eine holistische Ethik die Wechselwirkungen und ein Reflexionsgleichgewicht zwischen allgemeinen Prinzipien, gewonnen z.B. aus (transkultureller) hermeneutischer Betrachtung und überlappendem Konsens, und konkreten situationsethischen Urteilen thematisieren. Ethische Konstrukte würden analog zu Theorien der empirischen Wissenschaft analysiert, und auch allgemeine Prinzipien hätten hypothetischen Charakter, und könnten im Licht konkreter Entscheidungen modifiziert werden. So wäre (wissenschaftliche) Ethik mit dem politischen Prozess verknüpfbar.

Die europäische Ethik seit der frühen Neuzeit hat versucht, soziale Konflikte zu zivilisieren, indem Fragen des guten Lebens entpolitisiert, und in das Private abgeschoben wurden. Fragen des guten Lebens, einer guten Welt gehören nicht in das Konzept des liberalen Standartmodells von Demokratie. Es gibt neuerdings Ansätze, diese ethische Enthaltsamkeit der Politischen Theorie zu überwinden. Liberale Demokratien haben Probleme Fragen eines gemeinsamen Guten zu bearbeiten. Eine nachhaltige Transformation unserer Gesellschaften würde genau dies erfordern. Welche Möglichkeiten haben wir hierfür, ohne unserer Vorstellungen von persönlicher Autonomie über den Haufen zu werfen?

Diese Herausforderungen sollen Ausgangspunkt und strukturierendes Element einer Veranstaltungsreihe im Wintersemester 2024/2025 sein, bei der wir das Thema "Nachhaltigkeit und Ethik im Spannungsfeld von Normativität und Normalität" beleuchten möchten.


Veranstaltungen

Forschungswerkstatt
16.10.2024 (14-16 Uhr, Raum 03.208 Wittelsbacherplatz)

Forschungswerkstatt mit Vorträgen von:
Marie-Elisabeth Perschthaler „Transformation als Aufgabe. Eine Rekonstruktion von Corine Pelluchons Werk für die evangelische Ethik“
Dr. Philipp Gieg & JProf. Dr. Ulrike Zeigermann „Die Verhandlung von Ökozid in der Europäischen Union und in kleinen Inselstaaten.

Veranstaltungsbericht
 

Vortrag von Prof. Dr. Henrike Knappe (TU Berlin) zum Thema „Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit“
04.12.2024 (14-16 Uhr, Raum 03.208 Wittelsbacherplatz)

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Vortrag von JProf. Dr. Katharina Wörn zum Thema „Verzicht als transformative Praxis“
18.12.2024 (18-20 Uhr)

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Vortrag von Prof. Corine Pelluchon (Université Paris-Est-Marne-la-Vallée) zum Thema Transformation
28.01.2025 (18-20 Uhr)
 

Die Veranstaltungsreihe wird unter anderem in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit dem Institut für evangelische Theologie und Religionspädagogik, insbesondere der Juniorprofessur für Systematische Theologie, Gegenwartsfragen und Ethik, umgesetzt.

Inhaltlich schließen die Veranstaltungen an die Diskussionen aus den vergangen Veranstaltungsreihen aus dem Sommersemester 2023 - Sommersemester 2024 zu den Themen „Transformatives Nachhaltigkeitswissen“, "Nachhaltigkeit und Deliberation" und "Nachhaltigkeit und Konflikte" an. Die Diskussionen der Veranstaltungen der vorangehenden Themenschwerpunkten warfen stets ethische Fragen auf, beispielsweise: Welche Verantwortung trägt die Wissenschaft in Bezug auf Klimaproteste? Wie sieht eine gerechte Beteiligung beim demokratischen Instrument des Bürger- und Bürgerinnenrats aus? Auch für nachfolgende Veranstaltungsreihen liefert die Diskussion ethischer Fragen eine wertvolle Grundlage für die thematische Vertiefung und Anschlussfähigkeit.

Poster